Ein Mann – zermalmt, zerschlagen, erniedrigt und beleidigt, voll ohnmächtiger Wut – erwacht mit dröhnendem Kopf und sieht in die Augen einer zarten Frau. Wer ist sie? Draußen schneit es. Drinnen, das ist ein enges, dunkles Zimmer, ein Kerzenstummel, Kälte. Wer ist er selbst? Langsam fällt ihm alles wieder ein. Ein Dialog beginnt, ein Tauziehen um Macht, ein Heischen um Liebe, ein Versuch der Anerkennung, eine Bitte um Würde, beantwortet durch seine quälend anwachsende Verachtung. Das Zimmer befindet sich am Rande Sankt Petersburgs, Kälte herrscht drinnen und draußen. Bei nassem Schnee ist der Titel des zweiten Teils von Fjodor Dostojewskis Novelle Aufzeichnungen aus dem Untergrund, mit dem unser Abend unter dem Titel Untergrund beginnt. Draußen schneit es und drinnen öffnen sich weitere Zimmer: noch enger, noch trostloser, noch kälter. Prostituierte, Schulkameraden, Bedienstete, Offiziere, Passanten werden den kranken Mann immer weiter nach unten stoßen, – bevor er es selbst macht. Die Welt, die Dostojewski schafft, ist eine Welt von Idioten, Heiligen und Mördern, von hysterischen Frauen und verrückten Narren, von Gottsuchern und Lüstlingen, von fallsüchtigen Engeln und mystischen Teufeln. Er zeigt eine Welt, in der Reinheit nur aus Schmutz, und Heiligkeit nur aus furchtbaren Wunden hervorgehen zu können scheint, wo die Liebe von Gewalt erwürgt wird und die Lust sich von allen Banden zu entfesseln strebt. Marco Lorenzini spielt diesen Menschen aus dem Untergrund, eine der seltenen und ungewöhnlichen, fast unwahrscheinlichen Menschengestalten Dostojewskis, die keine Normen und Dogmen anerkennen, die alle Grenzen überschreiten und ihre Seele aus- und umwenden, in einem merkwürdigen, masochistischen, pathologischen Drang zur Selbstentlarvung, Selbstverurteilung, Beichte und Bekenntnis. Die Textfassung von Ruth Heynen und die Inszenierung von Frank Hoffmann zeigen einen erstaunlich heutigen Dostojewski. Dieser scheint über uns und unsere Welt zu sprechen. Dabei ist sein Ton wild, aufschäumend, protestierend, skurril, schwarz, ja, aber oft sehr komisch.
Une production Théâtre National du Luxembourg
auteur Fjodor M. Dostojewsky
metteur en scène Frank Hoffmann
assistant mise en scène Tom Dockal
costumes Christoph Rasche, Denise Schumann
décors Christoph Rasche
musique René Nuss
dramaturgie Ruth Heynen
maquillage Sylvie Walisch
Avec Marco Lorenzini, Roger Seimetz, Anouk Wagner