VOR DEM RUHESTAND
So viele Jahre spielen wir unsere Rolle / wir können nicht mehr heraus, charakterisiert Vera die Lebensform der drei unlöslich miteinander verbundenen Geschwister. Wir haben unser Theaterstück einstudiert / seit drei Jahrzehnten sind die Rollen verteilt / jeder hat seinen Part / abstoßend und gefährlich […] / Wir exis-tieren nur / weil wir uns gegenseitig die Stichwörter geben / weiter.
Heinrich Himmler, Reichsführer der SS, hat Rudolf Höller, damals stellvertretender Lagerkommandant, bei Kriegsende durch einen falschen Pass das Leben gerettet. Von seiner Schwester Vera nach dem Krieg zehn Jahre versteckt, machte Höller eine zweite Karriere als Gerichtspräsident und Landtagsabgeordneter. Jetzt, kurz vor der Pensionierung, feiern er und seine beiden Schwestern Vera und Clara wie in jedem Jahr den Geburtstag Himmlers. Rudolf legt seine SS-Uniform an und gemeinsam mit Vera lässt er die « alten Zeiten » wieder aufleben. Mit Champagner, festlich gedecktem Tisch und alten Fotoalben erinnern sie sich an ihr privates Glück…
Im Umfeld der damals in Deutschland stattfindenden Diskussion um den Marinerichter und späteren Ministerpräsidenten Hans Filbinger schrieb der bedeutende und unbequeme österreichische Dramatiker Thomas Bernhard ein Stück, in dem er nach den tiefliegenden Ursachen für das Fortbestehen von faschistischem Denken sucht. Er findet sie im Alltag. Mit ungeheurer poetischer Kraft gelingt es Bernhard in Vor dem Ruhestand, das Grauen im banalen Gespräch zum Vorschein zu bringen, wobei die Zuspitzung zu einem kaum glaubhaften Irrsinn tatsächlich von der Realität nicht weit entfernt ist. Es geht auch um die deutsche und die gegenwärtige Realität, denn heute scheint es, als wäre das Beckettsche Warten der Figuren auf eine Zeit, in der man Himmlers Geburtstag wieder öffentlich feiern darf, doch nicht so absurd.
Nach Genet, Williams, Fosse und Pinter beschäftigt sich der luxemburgische Filmregisseur Pol Cruchten ein weiteres Mal mit einem herausragenden Dramatiker der Moderne.
Auteur Thomas Bernhard
Metteur en scène Pol Cruchten
Avec Nora Koenig, Georg Marin, Christiane Rausch
production Théâtre National du Luxembourg
Théâtre National du Luxembourg avril 2016